Die Sängerinnen und Sänger unter Leitung von Landeskirchenmusikdirektor Matthias Pfund beim Konzert in der Dessauer Johanniskirche. Foto: Doreen Ritzau

 

 

 

 

 

Mit »Paulus« schließt sich der Kreis

Glaube und Heimat, 25. September 2017  

 

Jubiläum: Zum Reformationsfest 1917 gründete sich der Dessauer Lutherchor. Er gewährte Sängern und Zuhörern Zuflucht vor den Härten des Alltags.

Was vom Reformationsjubiläum 2017 in Dessau über dieses Jahr hinaus bleibt, wird die Geschichte zeigen. Das Reformationsjubiläum 1917 jedenfalls hat bis heute seine Spuren in der Stadt hinterlassen. Vor 100 Jahren gründete sich in der damaligen Residenzstadt des Herzogtums Anhalt ein Reformationschor, der seit 1946 über die Grenzen Dessaus hinaus als Lutherchor bekannt ist.

Als Reformationschor gegründet, als Lutherchor heute bekannt. 

Mit aktuell 82 Sängerinnen und Sängern, vom jungen Erwachsenen bis zum Senior, ist er einer der größten Laienchöre der Stadt. Jeden Dienstagabend wird in der Petruskirche geprobt. Aktuell für die drei Jubiläumsaufführungen. Am 24. September, 17 Uhr, erklingt in der Dessauer Johanniskirche ein A-cappella-Konzert. Am 29. Oktober kommt um 10 Uhr im Festgottesdienst am selben Ort die Kantate »Schmücke dich, o liebe Seele« von Johann Sebastian Bach zu Aufführung. Passend zum Reformationstag erfüllt akustisch, um 17 Uhr, das Oratorium »Paulus« von Felix Mendelssohn Bartholdy die Räume der Johanniskirche. Damit schließt sich ein Kreis.

Denn mit »Paulus« von Mendelssohn Bartholdy hat vor 100 Jahren alles angefangen. Der Dessauer Landeskirchenmusikdirektor Gerhard Preitz suchte zum 400-jährigen Reformationsjubiläum 300 Sänger, die in einem Reformationschor den »Paulus« zum Besten gaben. 600 hatten sich beworben. »Das ist angesichts der damaligen Umstände erstaunlich«, resümiert Matthias Pfund, der aktuelle Landeskirchenmusikdirektor der Anhaltischen Landeskirche und Leiter des Lutherchors. 1917 war ein schweres Jahr. Der »Hurra-Patriotismus«, mit dem 1914 und 1915 unter jubelndem Beifall der Bevölkerung junge Männer verabschiedet wurden, um an den Fronten des Ersten Weltkrieges für das Kaiserreich zu kämpfen, wich einem ernüchternden Realismus. Der Kaiser und seine Untertanen standen kurz davor, den Krieg zu verlieren. Immer mehr Versehrte und Traumatisierte kehrten heim. Der Kriegsalltag war von harten Entbehrungen geprägt. Feierlaune mag bei den wenigsten aufgekommen sein.

Und doch war das bevorstehende Konzert zum 400-jährigen Reformationsjubiläum so etwas wie ein kleines Aufbäumen gegen die Umstände, ein Licht in der Tristesse, mag der Beobachter anno 2017 vermuten. So probten die Laiensänger intensiv für die öffentliche Aufführung des »Paulus« und sollten nach dem Konzert eigentlich wieder auseinandergehen. Doch die Mitstreiter fanden so viel Gefallen daran, dass das Jubiläum zwar verging, aber der Reformationschor blieb. Viele gesellschaftliche Umbrüche hat er in seinen 100 Jahren miterlebt.

Seine Funktion als Zufluchtsort vor den Härten des Alltags zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Stets war er seinen Mitstreitern und Zuhörern ein persönlicher Halt. Die unruhigen Zeiten in der jungen Demokratie der Weimarer Republik, inklusive Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise, ließ er bei Proben und Konzerten wenigstens für ein paar Stunden vergessen. In der NS-Zeit pausierte er von 1939 bis Kriegsende. 1946 wurde seine Neugründung, diesmal unter dem Namen »Lutherchor«, förmlich herbeigesehnt. Hier konnte man sich mittels der Musik gegen die Unfreiheit in der Sowjetzone und später der DDR ein wenig auflehnen.

Seit der Wende ist der Lutherchor »ein Brückenbauer zwischen der Kirche und der säkularen Gesellschaft«, wie Matthias Pfund betont. Was sich am besten beim jährlichen Weihnachtsoratorium beobachten lässt, wenn Nichtchristen und Christen in trauter Eintracht lauschen.

Danny Gitter