Gründung des Chores

Es war zweifellos eine Sternstunde der Kirchenmusik, als der neu gegründete Reformationschor am 4. November 1917 mit dem Oratorium „Paulus“ von Mendelssohn Bartholdy zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat. Am 26. Mai war im Anhalter Anzeiger zur „Sammlung eines großen gemischten Chores zur Reformationsjubelfeier“ aufgerufen worden, um „die Aufführung eines protestantischen Chorwerkes als Zeugnis evangelischer Glaubensfreudigkeit in die Wege zu leiten“. Gerhard Preitz (1884–1946), seit 1911 Landeskirchenmusikdirektor, begann am 14. Juni mit den Proben.

Eine Voraufführung am 1. November wurde durch eine ausführliche Einführung und fast täglich erscheinende Anzeigen vorbereitet.

Die eigentliche Aufführung am 4. November, unter „Höchster Schutzherrschaft Sr. Hoheit des Herzogs“, wurde zu einem überwältigenden Ereignis.

Zwei Tage später lesen wir in der Zeitung: Die Aufführung gestaltete sich „zu einer weihevollen Erbauung und Erhebung“ ... Dem „zahlreichen Chore“ wird „in allen vier Stimmen ein voll gerüttelt Maß von Klangfülle und Klangschönheit, Edelklang der Tongebung, Feinheit der Intonation, Klarheit, Deutlichkeit und Schönheit der Textbehandlung, empfin-dungsvoller Vortrag...“ bescheinigt. Entsprech-end gewürdigt wird das Verdienst von Gerhard Preitz. 

Schließlich wird dringlich empfohlen, diesen leistungsfähigen Chor bestehen zu lassen und mit der von Friedrich Schneider gegründeten Singakademie zusammenzuführen. 


1927 — 10 Jahre Reformationschor

Am 15. Oktober 1927 gedenkt der Reformationschor seines 10-jährigen Bestehens mit einer Festaufführung des „Paulus“. Einige Tage davor würdigt der Anhaltische Staatsanzeiger mit enthusiastischen Worten das zehnjährige Wirken des Chores: „Es soll eine Feier im wahrsten Sinne des Wortes werden ... gilt es doch ein doppeltes Jubiläum zu feiern: Der Reformationschor wird anläßlich dieser „Paulus-Aufführung“ zum 30. Male in der Johanniskirche singen“. In den 10 Jahren seines Bestehens kamen neben Bachs Passionen u. a. Händels Messias, Haydns Schöpfung, Schneiders Weltgericht, Klughardts Zerstörung Jerusalems zur Aufführung. „... sie alle waren Teilglieder nur eines monumentalen himmelansteigenden Lobpreises des Höchsten, eine Musica sacra, die das Herz freisingt von Erdensorge und völkischer Not und emporträgt zu Himmelsfrieden und Gottesnähe.“

Am 14. Oktober 1927 erscheint eine kleine Anzeige zur Festaufführung des „Paulus“. Unmittelbar darunter fällt ein großes Hakenkreuz ins Auge – die Ankündigung einer Versammlung der NSDAP. 

In der Ausgabe vom 18. Oktober wird ausführlich über die wahrhaft erhebende „Paulus“- Festaufführung berichtet. Dabei wird mit Freude festgestellt, dass der Chor sich inzwischen zu einem hochbedeutsamen Faktor unseres Dessauer Musiklebens entwickelt habe. Es sei allerdings bedauerlich, dass es nicht gelungen sei, die Singakademie mit dem Reformationschor zu vereinigen. Aber auch das gehörte zum Dessauer Kulturleben: 1925 hatte sich das Bauhaus in Dessau angesiedelt – und: Kurt Weill verlässt Dessau!

Im Frühjahr 1920 bereitete auch Kantor Albert Weill den Wegzug von Dessau vor. Er trat ab Mai eine neue Stelle in Leipzig an, als Leiter des B’nai-B’rith-Waisenhauses in der Poniatowskistraße. Damit hatte die Familie Weill ihre Zelte in Dessau endgültig abgebrochen: Vater, Mutter und Ruth lebten ab April 1920 in Leipzig. Nathan studierte dort Medizin, Hans absolvierte seine kaufmännische Lehre in Halberstadt, Kurt war Kapellmeister in Lüdenscheid. Nur noch zweimal sollte Kurt Weill in die Vaterstadt zurückkehren, um dort Aufführungen seiner Werke beizuwohnen. Am 14. Juni 1923 dirigierte Albert Bing in einem Abonnementskonzert des Orchesters des Friedrich-Theaters die Uraufführung von Weills Orchestersuite op. 9 „Zaubernacht“.

Reichlich zwei Jahre später, am 29. Oktober 1925, folgte am gleichen Ort – Solist: Stefan Fraenkel, Dirigent: Franz von Hoeßlin, der Nachfolger von Hans Knappertsbusch – die deutsche Erstaufführung von Weills Konzert für Violine und Blasorchester op. 12 (die Uraufführung hatte am 11. Juni in Paris stattgefunden). Zuvor erklang im Konzert die Tanzsuite Nr. 2 von Béla Bartók. Das Dessauer Publikum wie die anhaltischen Rezensenten reagierten auf die beiden modernen Werke verständnislos und ablehnend. So fand sich etwa im „Anhalter Anzeiger“ die dringende „Empfehlung“ an den Dirigenten und musikalischen Oberleiter des Friedrich-Theaters Franz von Hoeßlin, im Interesse unseres Konzertinstitutes und auch im Interesse unseres Publikums, falls noch mehr dergleichen fragwürdige Kompositionen zur Aufführung vorgesehen sein sollten, sei dringend angeraten, davon Abstand zu nehmen und lieber eine Programmänderung eintreten zu lassen.

Enttäuscht, zugleich voller Empörung (und dementsprechend unsachlich gleich gegenüber der ganzen Stadt) schrieb der Komponist an seine Eltern: „...dieses gottverdammte Drecknest Dessau hat einen so düsteren Eindruck auf mich hinterlassen, dass ich tagelang unbrauchbar war. Ich habe noch nie eine so hochmütig ableh- nende Atmosphäre erlebt wie bei diesem Gesindel. Da sie die Tanzsuite von Bartók, eines der wertvollsten und leicht verständ- lichsten Werke unserer Zeit, das in 60 Städten Beifallsstürme erzeugt hat, mit völligem Schweigen aufgenommen haben konnte ich für mein Konzert keinerlei Erfolg erwarten. (...)“ Und dabei blieb es. Auch die Dessauer Premiere seiner „Dreigroschenoper“ am 17. Januar 1931 hat Weill nicht mehr besucht.“

(aus: Jürgen Schebera: Zwischen Synagoge und Herzoglichem Hoftheater: Kurt Weill – Kindheit und Jugendjahre in Dessau, S 186, in: Günther Eisenhardt (Hrsg.): Musikstadt Dessau, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad) 


1942 – 25 Jahre Reformationschor

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Reformationschor in einer Veranstaltung seines 25-jährigen Bestehens gedacht hat.


Neubeginn nach dem Krieg und der Befreiung

Gegen Ende des Krieges kam das kulturelle Leben und damit auch die Arbeit des Refor- mationschores zum Erliegen. Aber bereits im Januar 1946 gelang es Gerhard Preitz, den Chor wiederzubeleben, jetzt unter dem Namen Lutherchor. Schon am 17. Februar konnte er in der Petruskirche mit 90 Chorsängern eine „Geistliche Abendmusik“ gestalten. Neben

Kompositionen von Bach, Schütz und Händel kam auch sein eigenes „Te Deum“ zur Aufführung. Eine Passionsmusik zum Karfreitag (19. April) am gleichen Ort wurde zu seinem letzten öffentlichen Auftritt. Er starb wenige Monate später am 31. Mai 1946. Hermann Ernst Koch (1885–1963) übernahm im September seine Aufgaben. Er leitete den Reformationschor. bis zu seinem Ruhestand 1952.


1967 — 50 Jahre Lutherchor

Hans Helmut Ernst (1912–1985) war ab 1952 der neue Landeskirchenmusikdirektor und Leiter des Lutherchores. Am 2. Dezember 1967 gedachte der Chor mit einer Aufführung des „Paulus“ in der Johanniskirche seines 50-jährigen Bestehens. Wenn auch der Enthusiasmus der Gründerzeit nicht mehr vorhanden war (Ernst klagte fünf Wochen vor der Aufführung über einen beunruhigend schlechten Probenbesuch!), so wurde trotzdem auch diese Aufführung zu einem bedeutenden Ereignis. Die Liberal-Demokratische Zeitung (LDZ) bringt am 29.11.1967 eine kleine Anzeige. Die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten (MNN) weisen am 1.12. mit einer kurzen Vorbesprechung auf das Konzert hin und berichten am 7.12. ausführlich darüber: 

„Oberkirchenrat Gerhardt gedachte vor der Aufführung der verdienstvollen Arbeit dieses Laienchores und seines Leiters in anerkennenden Worten.“ Chor und Orchester werden lobend hervorgehoben. Besonders ausführlich wird über die Leistungen der Solisten berichtet. Am Ende heißt es: „Chor, Orchester und Solisten zogen eine aufgeschlossene Zuhörerschaft über 2 1⁄2 Stunden in ihren Bann. – Dem ältesten Chormitglied dankte LKMD Ernst in der Pause zwischen erstem und zweitem Teil stellvertretend für den gesamten Lutherchor mit herzlichen Worten und einem Gedenkgeschenk.“

Welch eine wechselvolle Geschichte hat der Lutherchor erlebt! Bei seiner Gründung befand sich Deutschland mitten im Ersten Weltkrieg. Das 25-jährige Jubiläum – das vermutlich nicht begangen werden konnte – fiel in die Zeit, als Hitler dabei war, die Welt ins Chaos zu stürzen. Als der Chor auf sein 50-jähriges Bestehen zurückblicken konnte, regierte Walter Ulbricht unser Land. Und dann war wieder alles ganz anders! Wir erlebten das Wahnsinnsjahr 1989.


1992 — 75 Jahre Lutherchor

Hans H. Ernst ging 1977 in den Ruhestand. Wolfgang Elger (*1932) übernahm seine Aufgaben. Zum 75-jährigen Jubiläum hatte der Chor – wie einst bei der Gründung - zur Mitwirkung bei einer einmaligen Aufführung des „Paulus“ eingeladen. Davon angesprochen fühlte sich auch der am Theater angesiedelte 

auf Anregung des damaligen Chordirektors Gerhard Pflugbeil gegründet worden, nachdem die gelegentliche Zusammenarbeit mit dem Lutherchor – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr fortgeführt werden konnte. (In einem letzten gemeinsamen Konzert war 1973 Haydns „Schöpfung“ aufgeführt worden.) Der Konzertchor hatte sich schnell zu beachtlicher Größe und Leistungsfähigkeit entwickelt. 1978 sang er Schuberts As-Dur-Messe, 1980 das „Deutsche Requiem“ von Brahms und wiederholt Beethovens 9. Sinfonie. Nach mehreren Wechseln in der Chorleitung und nachdem Johannes Felsenstein 1992 Intendant geworden war, verlor der Chor aber zunehmend seine Aufgaben und löste sich schließlich auf.

Von den verbleibenden Sängern zeigten sich viele bereit, die Aufführung des „Paulus“ mitzusingen. Es wurde vereinbart, dass sie bis zum Sommer die Chorsätze selbstständig einstudieren, um sich ab September mit dem Lutherchor zu vereinen. Als sie nach der Sommerpause zur ersten Probe kamen, stellte sich aber heraus, dass alle gänzlich unvorbereitet waren. Die Situation schien aussichtslos. Wie sollten diese Menschen in den verbleibenden acht Wochen lernen, wofür selbst erfahrene Chorsänger ein halbes Jahr benötigen? Sie wieder wegzuschicken, kam ebenso wenig infrage wie eine Verschiebung des Aufführungstermins. Es blieb nur die Flucht nach vorne. In einer beispiellosen Kraftanstrengung und mit dem unbedingten Willen, die Aufführung zu retten, wurden Sonderproben für den Gesamtchor und für jede Einzelstimme angesetzt. Jede und jeder hatte wöchentlich durchschnittlich drei Proben zu absolvieren. Mit der größten Selbstverständlichkeit wurde das angenommen. Alle waren nur von dem einen Gedanken erfüllt: „Wir müssen das schaffen!“ Und wir haben es geschafft! Die Aufführung am 31. Oktober wurde ein großes Ereignis! Der Chor vergaß alle Unsicherheiten und sang mit riesiger Begeisterung. Die übertrug sich unmittelbar auf die Zuhörer. Leider trug der Rezensent der Mitteldeutschen Zeitung dieser großen Leistung nicht genügend Rechnung. Zahlreiche Leserbriefe erwiderten seine Kritik an Teilen der Aufführung.


2002 — 85 Jahre Lutherchor

In der Nachfolge von Wolfgang Elger wurde 1998 Martin Herrmann zum Landeskirchenmusik-direktor berufen und damit zum Leiter des Lutherchores. Zum 85-jährigen Jubiläum wurde am 10. November 2002 „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms mit Solisten, Lutherchor und Orchester unter der Leitung von LKMD Martin Herrmann in der Johanniskirche Dessau aufgeführt. Oberkirchenrat Manfred Seifert schrieb dazu: „Der Lutherchor ist ein wichtiger Bestandteil unserer kirchlichen Arbeit besonders auch im Blick auf die Pflege unseres kulturellen Erbes und der Tradition. Dabei ist er in der Lage, immer wieder in seiner Geschichte neue Ansätze zu finden und immer wieder neue Sängerinnen und Sänger zu beteiligen. Der Lutherchor trägt bei, und zwar auf hohem Niveau, zum gemeinsamen Lob Gottes der versammelten Gemeinde und ist gleichzeitig auch Mitgestalter des kulturellen Lebens neben anderen Kulturträgern. In dieser Spannung ist der Lutherchor ein Chor ganz eigener Art. Denn Kirchenmusik ist Beteiligungsmusik, nicht Zuhörmusik.“


2017 — 100 Jahre Lutherchor

Nun steht das hundertjährige Bestehen des Chores an. Wieder gehen die Sängerinnen und Sänger mit großem Einsatz an die Vorbereitung. Vielleicht kann man eines aus den vorange-gangenen Aufführungen lernen: Wir singen und musizieren nicht, um uns einen Namen zu machen und schon gar nicht für die Zeitung, sondern um uns und unseren Zuhörern und Zuhörern mit dem Wunder dieser großartigen Musik Freude zu machen. Möge für die Sängerinnen und Sänger zum Motto dienen, was Beethoven einst seiner MISSA SOLEMNIS voranstellte: „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen!“ 

 

 

 

 

So endet Wolfgang Elger seine Darstellung der Geschichte des  Lutherchores entlang seiner Jubiläen. 


Warum wurde vor 100 Jahren Mendelssohns „Paulus“ aufgeführt – und kein Luther-Oratorium?

Der Komponist des "Paulus" Oratoriums - Felix Mendelssohn Bartholdy
Felix Mendelssohn Bartholdy

Wolfgang Elger fand im Anhaltischen Anzeiger vom 2. November 1917 folgenden Artikel von Max Preitz, der sich auch mit dieser Frage beschäftigte. Seine Antworten haben Gültigkeit bis heute und auch für die Paulus-Aufführung des Jahres 2017.

 

Zu Mendelssohns „Paulus“ von Dr. Max Preitz

 

"Mit gutem Grunde hat der Reformationschor Mendelssohns „Paulus“ als Gabe für Dessau gewählt, dem Jubeltage der evangelisch-protestantischen Kirche besondereWeihe zu geben. Wir besitzen zwar ein Oratorium, das Luther und seine Tat unmittelbar besingt (von Meinardus), doch dem fehlt die Leuchtkraft, der genialische Zug; derEhrentag unserer Kirche aber soll uns aus Not und Arbeit unserer Tage hinauf hebenzu leuchtender Höhe. Und weiter: Der 31. Oktober 1517 war ja ein Siegestag auch des größten Apostels, des Paulus, der aus Christi Lehre erst die christliche Religion geschaffen und ihr den Weg in alle Lande gebahnt hat. Und liegt nicht tiefste Verwandtschaft vor zwischen der Erschütterung, die aus dem Christenverfolger Saulus auf seiner Fahrt nach Damaskus den mächtigen Künder Paulus machte, und der Erleuchtung, die über unseren Luther kam, als er sich schwer abmühte auf dem Wege zur göttlichen Gnade? Wir wissen‘s alle: ohne Paulus kein Luther.

Felix Mendelssohn aber und seine Schöpfung stehen unserer Stadt besonders nahe. In erster Linie verband den gefeierten Meister mit Dessau seine innige Freundschaft zu Julius Schubring, dem ehemaligen Pfarrer von St. Georg, der nach mehr als halbhundertjähriger gesegneter Arbeit 1889 in der Stadt starb, deren Kind er gewesen. Schubring war in Berlin Schüler Schleiermachers; der hat ihn besonders wertgeschätzt. Den erlauchtesten Gestalten deutscher Kunst und Wissenschaft hat der junge Theologe in dem vornehmen Hause des Berliner Bankiers Abraham Mendelssohn nahetreten dürfen, in das er von Wilhelm Müllers Gattin empfohlen war. Hierbei, besonders gelegentlichder allsonntäglich dort dargebotenen Hausmusiken, fanden sich Felix Mendelssohnund Julius Schubring. Denn Schubring war kein gewöhnlicher Musikfreund, als Beurteiler wie als Klavierspieler gleich tüchtig, hin und wieder auch kompositorisch tätig. Auch nach seiner Rückkehr in die Heimat blieben beide gute Freunde, und das Pfarrhaus hier empfing den berühmten Musiker noch dreimal: 1830, 1845 und 1846.

Unvergessen bleibt auch, dass dem toten Mendelssohn, der von Leipzig nach Berlin überführt wurde, hier inDessau der letzte Scheidegruß gegebenwurde von Friedrich Schneider, den gerade Mendelssohns „Paulus“ aus dem Felde geschlagen hatte. An Schubring nun wandte sich Mendelssohn 1832 mit der Bitte, ihm bei der Abfassung eines Oratorientextes mit zur Hand zu sein. Die letzte Wahl und Entscheidung lag natürlich in Mendelssohns Hand, der außer Schubring noch mehrere Ratgeber heranzog, aber offen ausgesprochen hat, dass ihm von Schubring die besten Fingerzeige und Angaben für den Text gekommen sind. Die Wahl der Apostelgestalt ist für Mendelssohn wohl keine zufällige gewesen. ImGegenteil, erst eine nachweisbare innere Nötigung macht die Notwendigkeit, die Ein-zigartigkeit und Einheitlichkeit des musikalischen Ausdrucks begreiflich, die den unvergleichlichen Wert dieser Mendelssohnschen Tonschöpfung ausmacht. Mendelssohn war geborener Jude aus frommer, altehrwürdiger Familie; erst 1816 empfing er die Taufe. Und in dem reichen Elternhause wurde eine wohl außerordentlich edle, aber auch nach dem 1822 vollzogenen Übertritt des Vaters seine eigentlich christliche oder protestantische Lebenshaltung gewahrt. Erst über die protestantische Kunst Bachs und Händels hat Mendelssohn den Weg ins Innere des Protestantismus gefunden. Hierher gehört seine Tat, die erste Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion und die um 1831/32 geschaffene Reformationssinfonie. Das aber ist die Zeit, in der Hunderttausende den Umschwung aus seichter, oft selbstgerechter Aufklärung, modischer Gleichgültigkeit oder völlig mangelnder Religiosität zu neueren Verkehr mit dem persönlich erfassten Gott erleben – das paulinische Wunder. Mendelssohns „Paulus“ ist nichts Erarbeitetes, die in ihm enthaltene Innigkeit, Seligkeit, sein Aufschwung kein künstliches Scheinleben, sondern echt. [...]"

Das Werk, 1836 zuerst in Düsseldorf aufgeführt, ging seinen Weg siegreich, wie seit Haydns „Schöpfung“ kein anderes. Anhalt hat es zuerst 1840 gehört: beim ersten Anhaltischen Musikfest in Cöthen wurde es, von Thiele geleitet, aufgeführt.

 

Brief von von Felix Mendelssohn Bartholdy an Musikdirektor Karl Thiele vom 1.8.1840

 

Sr. Wohlgeboren Herrn Ed. Thiele.

Herzogl. Cöthenschen Musikdirektor in Köthen

Hochgeehrter Herr Musikdirektor!

Empfangen sie meinen besten Dank für Ihre freundliche Zuschrift, für alles Ehrenvolle, das sie enthält, für die Einladung des Comités, die ich gleichzeitig erhielt, vor allem fürdie Sorgfalt und Theilnahme, die Sie meinem „Paulus“ gewidmet und mit welcher Sie sich seiner Aufführung angenommen haben. Von Herzen gern würde ich ihrer Aufforderung folgend zu dem Musikfest gekommen sein, und dann hätte ich Ihnen mündlichmeinen Dank für all das Gute sagen können, das Ihr freundlicher Brief enthält, aber leider musste ich auf diese Freude Verzicht leisten, da ich früheren Verbindlichkeiten zufolge im September bei einem englischen Musikfeste mitzuwirken habe und erst Anfang Oktober in diese Gegend zurückkehre. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zusagen, wie aufrichtig ich dies Zusammentreffen bedaure, wie gern ich einem Eurer Musik-feste, von denen ich schon so viel Schönes und Rühmliches gehört, persönlich beigewohnt hätte, und welche Freude mir’s dann gewesen wäre, Ihre liebenswürdige Einladungin Ihr Haus anzunehmen und so eine dauernde und nähere Bekanntschaft zu knüpfen,während es nun beim bloßen Schreiben und Correspondieren bleiben muß. Doch hoffe ich bald einmal in ihre Gegend zu kommen oder sie in der unsrigen zu sehen und ihnen dann mündlich meinen Dank besser aussprechen zu können, als ich‘s heute schriftlich imstande bin.

Indem ich Sie bitte, inliegende Zeilen dem Comité gefälligst zu übergeben, bin ich mit vollkommener Hochachtung Ihr ergebenster

Leipzig, d. 1. August 1840

Felix Mendelssohn Bartholdy